Es geht um Luis [1] heißt der neue Film von Lucia Chiarla [2] . Der ist so sehenswert wie außergewöhnlich. Dem Ensemble gelingt es, einen abstrakten, menschlich schwierigen Stoff fassbar zu machen. Das ist berührend und anregend.
Alle Eltern kennen das mittlerweile: Ein Kind wird gemobbt, andere sind Täter und die Schule verhindert eine Lösung. Aber sehen wir uns die Konstellation vom Beginn her an.
Eine minimalistische Konstellation
Wir lernen drei Familienmitglieder kennen, die sich um den zehnjährigen Luis kümmern. Mutter ist Architektin in prekärer Stellung, Vater Taxifahrer, die Schwiegermutter und Oma pensionierte Lehrerin.
Alle sind abhängig von Herrschern, denen sie sich freiwillig unterordnen, [3] dem Taxiboss, dem Chef des Architekturbüros und der Schule, die weiterhin Gedanken- und Gefühlswelt der Oma beherrscht.
Luis bleibt abstrakt, wir hören von ihm ein Gedicht, sehen Schularbeiten und amtliche Dokumente. Manchmal telefoniert er oder textet mit seinen Eltern.
Luis Problem ist zunächst ein Rucksack, für den ihn Mitschüler hänseln und verprügeln, bis er zurückschlägt. Nach und nach entdecken wir, wie Überlastung und Überforderung die Figuren dazu bringen, einander zu vernachlässigen, Verantwortung zurückzuweisen, sich zu bekriegen und so ihre Lage immer weiter zu verschlimmern. Anläufe zu Lösungen, sogar ein Über seinen Schatten springen und alle Liebe der Welt kommen zu spät und vermögen nichts gegen die Verhältnisse.
Antagonisten
Luis Schulleiter setzt sich nicht für ihn ein sondern versucht den Problemfall an eine andere Schule abzuschieben. Die Lehrer-Oma hat dem nur Worthülsen aus der achtundsechziger Studentenzeit entgegenzusetzen. Sie ist so tief in das Schulsystem verstrickt, dass sie an den Verhältnissen verzweifelt, unfähig den folgenden Generationen praktische Hinweise zum Meistern der Institution zu geben.
Der Taxichef bedroht seine Angestellten mit Entlassung, „wer nicht fährt fliegt raus“, und nötigt sie zu überlangen Wochenendschichten. Ihn selber bedrücken die sinkenden Umsätze verursacht durch eine „Taxiapp“ in der man unschwer den Uber-Konzern erkennt. Im Grunde menschlich begibt er sich mit der Mutter auf die Suche nach seinem verschollenen Angestellten, unfähig zu mehr als dieser symbolischen Geste.
Der Leiter des Architekturbüros nötigt die Mutter zu endlosen Überstunden. Sein Projekt muss fertig werden. Die junge Architektin lässt sich in der Hoffnung auf eine feste Anstellung als Projektleiterin darauf ein. Luis ist bei der Großmutter und hält per Telefon Kontakt zu seinen immerzu arbeitende Eltern.
Das Grauen
Keine Figur ist zu selbst erdachten Entscheidungen fähig, alle lassen sich von den übermächtigen Verhältnissen antreiben. [4]
Der Film und seine Figuren fühlen sich an wie ein Anti-Theorem. [5] Die prekarisierte Mittelschicht Stuttgarts kennt keine Atempause, nicht einmal an einem einzigen besonderen Tag [6] .
Wir sind so
Die Schicksale sind uns vertraut. Wir kennen das. Selten jedoch werden sie so klar gezeigt, menschlich und mit den wesentlichen Hintergründen. Die Lösungen? Der Film schlägt keine vor, denn sie liegen auf der Hand. Wo scheinbar übermächtige Kräfte wirken helfen nur Unabhängigkeit [7] und Entschlusskraft. Einmal erlangt verjagen sie die Furcht. [8]
Was ist nun mit Stuttgart und Berlin ?
Im FIlm beobachten wir die Stuttgarter Mittelschicht beim Kampf um ihre Existenz. In Berlin gedreht bliebe dem Film davon allein der Kampf ums nackte Überleben. Lang ist es her, dass typische Berliner Taxi- und MIetwagenfahrerinnen oder -fahrer zur Mittelschicht gehörten.
Seit uns die Aufsichtsbehörde genaue Zahlen vorenthält können wir den Anteil der Taxifahrer mit eigenem Wagen nur vermuten, er bewegte sich zuletzt bei etwas über 1000, also 20 Prozent von knapp über 5000 Taxis. Das ist unsere „Mittelschicht“, die oft für weniger als den gesetzlichen Mindestlohn arbeitet. Den abhängig beschäftigten Fahrerinnen und Fahrer geht es nicht besser. Sie akzeptieren das durch unbeschränkte Vergabe von Konzessionen und den Einbruch von Uber erzwungene Lohndumping, weil sie um ihren Arbeitsplatz fürchten.
Taxizukunft ?
Das ist ein riesiges Problem, weil kultivierte, humorvolle Taxifahrer wie im Film nicht mehr nachwachsen. Wenn jeder andere Job besser bezahlt ist als die anstrengende, verantwortungsvolle und gefährliche Arbeit des Taxifahrers, bewerben sich nur noch orientierungslose Menschen ohne jede „gesellschaftliche Teilhabe“, wie es im Behördensprech heisst.
Die Folge sind schlechte Behandlung der Fahrgäste, sinkende Qualität der Taxis und abgrundtief frustrierte Menschen am Lenkrad. Die fühlen sich von allen verlassen, von den Kollegen, vielleicht sogar von Freunden, die ihnen nicht helfen können, vom Chef und von Staat sowieso. Über Gewerkschaften, Solidarität wissen sie nichts. Man nennt es Verelendung. Stuttgart ist noch weit davon entfernt, eine im Vergleich heile Welt.
Fazit
Deshalb lohnt es sich, „Es geht um Luis“ anzusehen. Der Film macht keine Hoffnung. Dann wäre er verlogen. Er bringt einen auf Gedanken. Gut so.
Ab morgen, Donnerstag 23.1.2025 im Kino. Hingehen oder bei Taxifilmfest ansehen !