Stuttgart ist nicht Berlin - Es geht um Luis

Der Untergang der Mittelschicht

Gestern waren wir im Kino. Ein Taxifilm spielt in Stuttgart. Da lebt man im Luxus, aber es ist auch nicht besser als in Berlin.

22. Januar 2025 von Klaus Meier
 

Es geht um Luis [1] heißt der neue Film von Lucia Chiarla [2] . Der ist so sehenswert wie außergewöhnlich. Dem Ensemble gelingt es, einen abstrakten, menschlich schwierigen Stoff fassbar zu machen. Das ist berührend und anregend.

Alle Eltern kennen das mittlerweile: Ein Kind wird gemobbt, andere sind Täter und die Schule verhindert eine Lösung. Aber sehen wir uns die Konstellation vom Beginn her an.

Eine minimalistische Konstellation

Wir lernen drei Familienmitglieder kennen, die sich um den zehnjährigen Luis kümmern. Mutter ist Architektin in prekärer Stellung, Vater Taxifahrer, die Schwiegermutter und Oma pensionierte Lehrerin.

Alle sind abhängig von Herrschern, denen sie sich freiwillig unterordnen, [3] dem Taxiboss, dem Chef des Architekturbüros und der Schule, die weiterhin Gedanken- und Gefühlswelt der Oma beherrscht.

Luis bleibt abstrakt, wir hören von ihm ein Gedicht, sehen Schularbeiten und amtliche Dokumente. Manchmal telefoniert er oder textet mit seinen Eltern.

Luis Problem ist zunächst ein Rucksack, für den ihn Mitschüler hänseln und verprügeln, bis er zurückschlägt. Nach und nach entdecken wir, wie Überlastung und Überforderung die Figuren dazu bringen, einander zu vernachlässigen, Verantwortung zurückzuweisen, sich zu bekriegen und so ihre Lage immer weiter zu verschlimmern. Anläufe zu Lösungen, sogar ein Über seinen Schatten springen und alle Liebe der Welt kommen zu spät und vermögen nichts gegen die Verhältnisse.

Antagonisten

Luis Schulleiter setzt sich nicht für ihn ein sondern versucht den Problemfall an eine andere Schule abzuschieben. Die Lehrer-Oma hat dem nur Worthülsen aus der achtundsechziger Studentenzeit entgegenzusetzen. Sie ist so tief in das Schulsystem verstrickt, dass sie an den Verhältnissen verzweifelt, unfähig den folgenden Generationen praktische Hinweise zum Meistern der Institution zu geben.

Der Taxichef bedroht seine Angestellten mit Entlassung, „wer nicht fährt fliegt raus“, und nötigt sie zu überlangen Wochenendschichten. Ihn selber bedrücken die sinkenden Umsätze verursacht durch eine „Taxiapp“ in der man unschwer den Uber-Konzern erkennt. Im Grunde menschlich begibt er sich mit der Mutter auf die Suche nach seinem verschollenen Angestellten, unfähig zu mehr als dieser symbolischen Geste.

Der Leiter des Architekturbüros nötigt die Mutter zu endlosen Überstunden. Sein Projekt muss fertig werden. Die junge Architektin lässt sich in der Hoffnung auf eine feste Anstellung als Projektleiterin darauf ein. Luis ist bei der Großmutter und hält per Telefon Kontakt zu seinen immerzu arbeitende Eltern.

Das Grauen

Keine Figur ist zu selbst erdachten Entscheidungen fähig, alle lassen sich von den übermächtigen Verhältnissen antreiben. [4]

Der Film und seine Figuren fühlen sich an wie ein Anti-Theorem. [5] Die prekarisierte Mittelschicht Stuttgarts kennt keine Atempause, nicht einmal an einem einzigen besonderen Tag [6] .

Wir sind so

Die Schicksale sind uns vertraut. Wir kennen das. Selten jedoch werden sie so klar gezeigt, menschlich und mit den wesentlichen Hintergründen. Die Lösungen? Der Film schlägt keine vor, denn sie liegen auf der Hand. Wo scheinbar übermächtige Kräfte wirken helfen nur Unabhängigkeit [7] und Entschlusskraft. Einmal erlangt verjagen sie die Furcht. [8]

Was ist nun mit Stuttgart und Berlin ?

Im FIlm beobachten wir die Stuttgarter Mittelschicht beim Kampf um ihre Existenz. In Berlin gedreht bliebe dem Film davon allein der Kampf ums nackte Überleben. Lang ist es her, dass typische Berliner Taxi- und MIetwagenfahrerinnen oder -fahrer zur Mittelschicht gehörten.

Seit uns die Aufsichtsbehörde genaue Zahlen vorenthält können wir den Anteil der Taxifahrer mit eigenem Wagen nur vermuten, er bewegte sich zuletzt bei etwas über 1000, also 20 Prozent von knapp über 5000 Taxis. Das ist unsere „Mittelschicht“, die oft für weniger als den gesetzlichen Mindestlohn arbeitet. Den abhängig beschäftigten Fahrerinnen und Fahrer geht es nicht besser. Sie akzeptieren das durch unbeschränkte Vergabe von Konzessionen und den Einbruch von Uber erzwungene Lohndumping, weil sie um ihren Arbeitsplatz fürchten.

Taxizukunft ?

Das ist ein riesiges Problem, weil kultivierte, humorvolle Taxifahrer wie im Film nicht mehr nachwachsen. Wenn jeder andere Job besser bezahlt ist als die anstrengende, verantwortungsvolle und gefährliche Arbeit des Taxifahrers, bewerben sich nur noch orientierungslose Menschen ohne jede „gesellschaftliche Teilhabe“, wie es im Behördensprech heisst.

Die Folge sind schlechte Behandlung der Fahrgäste, sinkende Qualität der Taxis und abgrundtief frustrierte Menschen am Lenkrad. Die fühlen sich von allen verlassen, von den Kollegen, vielleicht sogar von Freunden, die ihnen nicht helfen können, vom Chef und von Staat sowieso. Über Gewerkschaften, Solidarität wissen sie nichts. Man nennt es Verelendung. Stuttgart ist noch weit davon entfernt, eine im Vergleich heile Welt.

Fazit

Deshalb lohnt es sich, „Es geht um Luis“ anzusehen. Der Film macht keine Hoffnung. Dann wäre er verlogen. Er bringt einen auf Gedanken. Gut so.

Ab morgen, Donnerstag 23.1.2025 im Kino. Hingehen oder bei Taxifilmfest ansehen !


[1Team und Besetzung bei Wikipedia

[2Lucia Chiarla Autorin, Schauspielerin, Regisseurin

[3Étienne de La Boétie hat bereits 1574 in seinem Discours de la servitude volontaire (Von der freiwilligen Knechtschaft) gezeigt, dass Unterwerfung und Knechtschaft nie vollständig erzwungen sind sondern letzten Endes auf eigenen Entscheidungen der Unterjochten beruhen.

[4Es geht um Luis ist auch eine Reise in die Abgründe der Seele, wo das Grauen herrscht, das Joseph Conrad in Heart of Darkness und Francis Ford Coopla in Apocalypse Now beschreiben. Es ist uns nur alles viel näher und nicht so riesig wie in den Klassikern.

[5Teorema – Geometrie der Liebe von Pier Paolo Pasolini aus dem Jahr 1968. Als Pasolini vor 57 Jahren die Bourgeoisie grandios an ihrer sexuellen Befreiung scheitern ließ, blieb zumindest die Arbeiterklasse als Träger der Hoffnung.

[6Ein besonderer Tag von Ettore Scola aus dem Jahr 1977
Der Film spielt in der italienischen Hauptstadt Rom. Es ist der 6. Mai 1938, Staatsbesuch Hitlers bei Mussolini in Rom . In einem Appartementkomplex lebt das Ehepaar Emanuele und Antonietta mit seinen sechs Kindern. Emanuele, der wie seine Frau ein Anhänger der Faschisten ist, geht mit den Kindern in die Stadt, um der Parade beizuwohnen. Antonietta bleibt zu Hause, um den Haushalt zu machen; ihr entfliegt der von der Familie geliebte Beo. Antonietta bemerkt, dass in der Wohnung gegenüber, vor der sich der Vogel niedergelassen hat, ein Mann sitzt, und klingelt dort. Gabriele – der kurz davor war, sich eine Kugel in den Kopf zu schießen – hilft Antonietta, den Beo wieder einzufangen.

[7Zum Begriff der Verlassenheit im Sinne von Unabhängigkeit siehe Der Existenzialismus ist ein Humanismus von Jean-Paul Sartre, 1946

[8Noch einmal Étienne de La Boétie : „Man stelle fünfzigtausend bewaffnete Männer auf eine Seite und ebenso viele auf die andere; man ordne sie zur Schlacht; sie sollen handgemein werden: die einen sollen freie Männer sein, die für ihre Freiheit kämpfen, die andern sollen ausziehen, um sie ihnen zu rauben: welchen von beiden wird vermutungsweise der Sieg in Aussicht zu stellen sein?

Welche, meint man, werden tapferer in den Kampf gehen? Diejenigen, die zum Lohne für Ihre Mühen die Aufrechterhaltung ihrer Freiheit erhoffen, oder diejenigen, die für die Streiche, die sie versetzen oder empfangen, keinen andern Preis erwarten können, als die Knechtschaft der andern? Die einen haben immer das Glück ihres bisherigen Lebens, die Erwartung ähnlichen Wohlstands in der Zukunft vor Augen; es kommt ihnen nicht so sehr zu Sinn, was sie in der kurzen Spanne einer Schlacht durchzumachen, wie was sie, ihre Kinder und all ihre Nachkommenschaft für immer zu ertragen haben.

Die andern haben zu ihrer Erkühnung nur ein kleines Quentchen Begehrlichkeit, das sich gegen die Gefahr verblendet, das aber nicht so gar glühend sein kann, vielmehr mit dem kleinsten Blutstropfen, der aus ihren Wunden fließt, erlöschen muß.“

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