Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber gelegentlich bleibt auch mir angesichts der Lage nur Ironie bis zu ihrer härtesten Form, dem Sarkasmus..
Ein alleinstehender, fest angestellter Taxifahrer, der jede Woche 40 Stunden arbeitet, erhält dafür zur Zeit um die 6,45 Euro brutto pro Stunde also knapp 1000 Euro Brutto- oder etwa 800 bis 900 Euro Nettolohn. Das liegt unterhalb des Mindestlohnniveaus, aber zusammen mit dem Trinkgeld reicht es für eine kleine Wohnung, und er verhungert nicht. Er verzichtet auf Extras, macht im Sommer keine schöne Reise und verbringt die Jahreswechsel nicht auf den Kanarischen Inseln. Ein eigenes Auto ist auch nicht drin, aber er kann seinen Wocheneinkauf mit dem Taxi erledigen.
Dieser Mann bekommt nun einen Job als Auslieferungsfahrer oder Lagerist angeboten. Dafür würde er jeden Monat bis zu 2500 Euro brutto, also ca. 1800 Euro netto verdienen. Er würde sich eine entsprechend höhere Altersrente und weitere Vorteile erarbeiten, die in tarifgebundenen Betrieben üblich sind. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in "Normalarbeitsverhältnissen", sehen diese Konditionen als absolutes Minimum an, und würden das Jobangebot sofort akzeptieren, um von dem unterbezahlten Taxijob wegzukommen. Aus der Perspektive des Kutschers stellt sich das anders dar.
Der Kollege hat sein Leben und seine Bedürfnisse viele Jahre Jahre lang auf die Arbeit als Taxifahrer abgestimmt. Er ist gewohnt, mit sehr wenig auszukommen. Nur schlechter darf der Verdienst nicht werden, weil dann Obdachlosigkeit und Hunger drohen.
Nimmt der Kollege einen der angebotenen Jobs an, bringt er das mühsam erreichte Gleichgewicht in seinem Leben durcheinander. Das wäre an sich nicht schlimm, wenn er über genügend Rücklagen verfügen könnte. Sollte er die Probezeit nicht überstehen oder der neue Betrieb ihn aus anderen Gründen kündigen, müßte er eine finanzielle Durststrecke überbrücken. Dafür fehlen ihm die Rücklagen.
Für die Entscheidung, ob er einen neuen Job annimmt, muss unser Kollege sein finanzielles Risiko abschätzen und ein wenig in die Zukunft schauen. Er muß die Zusammenhänge zwischen beruflicher Entwicklung, Altersrente und seiner eigenen Leistungsfähigkeit beurteilen. Danach muß er alles mit seinen Lebensvorstellungen in Einklang bringen. Da er viel über die Unzuverlässigkeit der Menschen und Prophezeiungen weiß, entscheidet er, die Jobangebote abzulehnen. Er will das mühsam erarbeitete prekäre Gleichgewicht in seinem Leben nicht in Gefahr bringen. Das Risiko ist zu hoch für ihn.
Besser Gestellte haben mehr Spielraum, und können sich mehr Wagemut erlauben. Sie dürfen sich ungestraft auf Neues einlassen, weil ein Mißerfolg sie nicht in den Abgrund stößt.
In seinem Buch "The End of Economics" [1] macht sich Michael Perelman [2] über diese besser Gestellten Gedanken und fragt: "Warum sind so viele Anleger bereit zu spekulieren, wenn die Ausfallquote so hoch ist?" Die Antwort darauf findet er bei Adam Smith [3], der 1776 feststellte:
"Die übertriebene Vorstellung, die der größte Teil der Menschen von ihren eigenen Fähigkeiten hat, ist ein altes Übel, das den Philosophen und Moralisten aller Zeitalter bekannt war. Ihre absurde Anmaßung in Bezug auf ihr eigenes Glück wurde von ihnen seltener wahrgenommen. Diese ist jedoch, wenn möglich, noch universeller. Die Chance auf Gewinn wird von allen Menschen mehr oder weniger überschätzt, die Chance auf Verlust jedoch wird von den meisten Menschen unterbewertet." [4]
Perelman weiter: "Smith führte hier die Häufigkeit erfolgloser Investitionen auf einen allgemeinen Charakterfehler zurück. Er veranlasst die meisten Menschen dazu, ihr Glück zu überschätzen."
Im Lichte der Worte beider Ökonomen zeigt sich unser Taxifahrer als weiser Mann. Der Spatz in der Hand verschafft ihm zwar wenig Genuss, aber die Taube auf dem Dach müßte er mit dem Gewehr schießen, das er nicht hat [5] .
Nachsatz
Dies ist ein Beitrag zur Diskussion, keine Analyse oder Handlungsanleitung. Seit langer Zeit frage ich mich, weshalb viele angestellte Kolleginnen und Kollegen sich mit Löhnen zufrieden geben, die nicht einfach sehr niedrig sind, sondern weit unterhalb der gesetzlichen Schwelle des Mindestlohns liegen. Deshalb schreibe ich über einen fiktiven Taxifahrer, dessen Sichtweise ich in vielen Begegnungen so oder ähnlich erfahren habe. Die Leserinnen und Leser frage ich, ob die im Artikel vorgestellte Sichtweise sinnvoll und verständlich ist. oder ob sie womöglich in die persönliche Katastrophe führt.
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